Wie wirken Antidepressiva wirklich?

Lukas Basedow im Interview mit Prof. Dr. Eero Castrén

Übersetzt aus dem Englischen von Martin Gürster, editiert von Sebastian Moder

Antidepressiva gehören zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten der Welt, mit einer Reihe von angenommenen antidepressiven Mechanismen. Eine neue Studie wirft einen genaueren Blick auf klassische Antidepressiva wie SSRIs & SNRIs und neuere Antidepressiva wie Ketamin, um folgende Frage zu beantworten: Gibt es einen zugrundeliegenden Mechanismus, durch den all diese verschiedenen Medikamente ihre antidepressive Wirkung entfalten? In dieser in der Fachzeitschrift Cell veröffentlichten Studie argumentieren die Autoren, dass es bei all diesen Substanzen einen gemeinsamen Mechanismus gibt, der für ihre antidepressive Wirkung wesentlich ist: die Förderung synaptischer Plastizität im Gehirn. Ich habe einen der Autoren, Prof. Dr. Eero Castrén, interviewt, um zu verstehen, was es mit diesem neuen Mechanismus auf sich hat.

Lukas: Herzlich willkommen zu diesem Forschungsinterview! Danke, dass Sie heute hier sind. Wir machen dieses Interview, um eine bestimmte Studie zu besprechen, an der Sie beteiligt waren. Zu Beginn würde ich gerne ein wenig über den Hintergrund dieser Forschung erfahren. Wie sind Sie auf Ihre Forschungsfrage gekommen?

Eero: Also das ist eigentlich etwas, das wir schon seit 20 oder 25 Jahren machen. Es ist also ein wirklich langfristiges Projekt. Ich habe einen umfangreichen Hintergrund in neurotrophen Faktoren und Neuroplastizität, mit einem besonderen Fokus auf BDNF [brain derived neurotropic factor, ein Protein, das für das Wachstum neuer Gehirnzellen wichtig ist] und TRKB [Tropomyosin receptor kinase B]-Rezeptoren [an die BDNF bindet]. Die ganze Zeit, in der ich in diesem Labor gearbeitet habe, haben wir diese Moleküle untersucht und wollten vor allem herausfinden, ob psychotrope Medikamente diese Rezeptoren beeinflussen oder auf sie einwirken könnten. Eine der Medikamentenklassen, die wir untersucht haben, sind Antidepressiva, und wir haben schon vor 20 Jahren herausgefunden, dass, wenn man Mäuse mit Antidepressiva behandelt, die Signalisierung über diesen TRKB-Rezeptor erhöht wird. Von da an haben wir viel Zeit damit verbracht, zu untersuchen, wie das passiert und welche Mechanismen dabei eine Rolle spielen. Diese aktuelle Veröffentlichung ist also im Grunde das Ergebnis von 20 Jahren Arbeit.

Lukas: Das ist wirklich beeindruckend. Ich nehme an, das erklärt, warum Sie die Ergebnisse aus so vielen verschiedenen Forschungstechniken und Methoden präsentieren. Könnten Sie kurz zusammenfassen, was diese verschiedenen Methoden sind? Und welche Ansätze haben Sie verwendet, um diesen speziellen Rezeptor zu untersuchen?

Eero: Nun, mein Labor konzentriert sich auf Biochemie und Molekularbiologie, und wir haben vor allem Signalmoleküle, wie BDNF, und ihre Veränderungen als Reaktion auf eine medikamentöse Behandlung untersucht. Wir schauen uns oft an, wie die Phosphorylierung [ein Prozess, bei dem mit Hilfe eines Enzyms eine Phosphatgruppe chemisch an ein Molekül angefügt wird] diese Signalmoleküle (z. B. Neurotransmitter oder Hormone) aktiviert. Außerdem führten wir verschiedene Arten von Bindungsuntersuchungen durch, bei denen wir untersuchten, wie Medikamente mit sehr spezifischen Strukturen, wie z. B. SSRIs [selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, die häufigste Art von Antidepressiva], an TRKB-Rezeptoren binden.

Eine kritische Komponente dieser speziellen Studie war die Modellierung. Wir hatten das Privileg, mit dem Labor von Ilpo Vattulainen zusammenzuarbeiten. Er ist ein sehr talentierter Physiker und ein Spezialist für die Untersuchung der Struktur von Transmembranproteinen durch computergestützte Modellierung [Transmembranproteine sind biochemische Strukturen, die die gesamte Zellmembran überspannen und intra- und extrazelluläre Funktionseinheiten haben]. Für unsere Studie modellierte seine Gruppe den Einflusse kleiner Moleküle wie Cholesterin und Steroiden auf die Struktur und Funktion des TRKB-Rezeptors. Unsere Arbeit war also eigentlich eine Art Hin- und Her-Zusammenarbeit mit dieser Gruppe. Sie entwickelten Ideen, die wir dann in unserem Labor testeten, woraufhin sie die Ergebnisse aus unserem Labor nutzten, um ihr Modell zu verbessern. Ich denke, diese Zusammenarbeit war ein wesentlicher Teil dieser Studie, und was mich am meisten freut, ist das Modell, das wir letztendlich entwickelt haben. Es ist uns gelungen, ein spezifisches Modell zu entwerfen, das genau beschreibt, was passiert, wenn Antidepressiva an den TRKB-Rezeptor binden, und das ist etwas, was wir ohne diese Zusammenarbeit nicht hätten entwickeln können.

Außerdem führten wir Studien in Zellkulturen durch, in denen wir die Auswirkungen dieser Medikamente auf das Wachstum von Neuronen untersuchten und sahen, dass dieser Effekt verloren ging, wenn wir den TRKB-Rezeptor mutierten. Wir führten auch Verhaltensstudien mit Mäusen durch, bei denen wir sahen, dass eine genetische Mutation, die die Bindung von Antidepressiva an die TRKB-Rezeptoren verhindert, zu einem Verlust der antidepressiven Wirkung bei diesen Mäusen führte. Alles in allem hatten wir ein sehr großes Repertoire an Methoden, die wir einsetzten.

Lukas: Sie haben bereits einige der Ergebnisse erwähnt, die Sie durch diese verschiedenen Methoden erhalten haben. Könnten Sie die wichtigsten Ergebnisse noch einmal für uns zusammenfassen? Und was waren die Ergebnisse, die Sie persönlich für die wichtigsten hielten?

Eero: Wie gesagt, hat mein Labor schon vor 20 Jahren Hinweise darauf gefunden, dass die TRKB-Signalisierung durch diese Medikamente verstärkt wird, und jetzt haben wir direkte biochemische Beweise, dass diese Medikamente tatsächlich direkt an den TRKB-Rezeptor binden.

Die Modellierung zeigte zusätzlich eine spezifische Stelle auf dem TRKB-Rezeptor, an der Antidepressiva binden. Diese Bindungsstelle befindet sich tatsächlich an der Kreuzung von zwei TRKB-Rezeptoren, die auf eine bestimmte Art und Weise zusammengekommen sind, wodurch eine Bindungsstelle für das Medikament entsteht. Im Labor konnten wir diese Bindungsstelle durch genetische Modifikationen verifizieren.

Außerdem zeigten bildgebende Untersuchungen, dass das Vorhandensein der TRKB-Rezeptoren auf synaptischen Membranen durch diese Bindung von Antidepressiva erhöht wird, was einen weiteren Beweis für die Hypothese liefert, dass Antidepressiva an sie binden. Normalerweise kommt TRKB nur für eine sehr kurze Zeit an die synaptische Membran und wird dann von der Membran ausgeschlossen, was bedeutet, dass BDNF nicht mehr daran binden kann. Aber durch die Bindung der Antidepressiva wird diese Präsenz des TRKB-Rezeptors in der Membran erhöht, was bedeutet, dass eine höhere Chance besteht, dass auch BDNF daran bindet.

Das ist etwas, das ich sehr interessant fand, denn viele Pharmafirmen haben geforscht und versucht, Moleküle zu finden, die TRKB-Rezeptoren direkt aktivieren würden, so wie BDNF sie aktiviert. Ich war immer etwas skeptisch gegenüber diesem Ansatz, da es einen Grund gibt, warum die TRKB-Rezeptoren normalerweise nur für eine kurze Zeit in der Membran bleiben: Die Idee ist, dass diese kurze Zeit, in der BDNF an den Rezeptor bindet, dem Gehirn erlaubt, nur die synaptischen Kontakte und Verbindungen zu selektieren und zu stabilisieren, die aktiv genutzt werden. Würde man aber überall TRKB-Rezeptoren direkt aktivieren, würde man auch Synapsen stabilisieren, die nicht aktiv genutzt werden, was das Signal-Rausch-Verhältnis im Gehirn negativ beeinflussen und zu einer weniger optimalen Leistung führen würde.

Was wir jetzt als Ergebnis der antidepressiven Wirkung sehen, ist, dass die TRKB-Rezeptoren aktiver sind und länger in den Membranen verbleiben, aber sie brauchen immer noch die Freisetzung von BDNF, um eine Wirkung zu haben. Das bedeutet, dass, obwohl die synaptische TRKB-Rezeptorpräsenz insgesamt erhöht ist, nur die Synapsen gestärkt werden, an denen BDNF aktiv freigesetzt wird, sprich, die aktiven Verbindungen werden gestärkt. Für mich ist das sehr erfreulich, weil ich immer dachte, dass diese Art von Wirkung ein wahr gewordener Traum wäre, und es stellt sich heraus, dass Antidepressiva diesen Traum tatsächlich erfüllen könnten. Wir haben so etwas schon länger vermutet, aber wir hatten keine Ahnung, wie das passieren könnte, und jetzt haben wir ein Modell und dieses Modell testen wir und hoffen, dass es sich bewähren wird.

Lukas: Ist dieser “wahrgewordene Traum” auch das, worauf Sie anspielen, wenn Sie in Ihrem Artikel schreiben, dass Antidepressiva “smart drugs” sind? Könnten Sie erklären, in welchem Sinne Antidepressiva “smart” sind?

Eero: Was ich in diesem speziellen Zusammenhang meine, ist, dass die Medikamente selbst die TRKB-Rezeptoren nicht aktivieren, aber sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass BDNF an sie bindet. Antidepressiva bieten nur die Möglichkeit, dass BDNF bindet, was bedeutet, dass die Aktivierung des TRKB-Rezeptors immer noch von der neuronalen Aktivität abhängig ist. Und die neuronale Aktivität wird wiederum durch Ihr eigenes Handeln beeinflusst, so dass Sie das Ergebnis dieser medikamentösen Behandlung tatsächlich durch Ihr Verhalten beeinflussen können. Das ist es, was ich mit “smart drugs” meine. Diese Art der Wirkung als wahrgewordener Traum bedeutet, dass diese Substanzen Ihnen keine Dinge aufzwingen, sondern Ihnen im Grunde die Möglichkeit geben, die strukturelle Funktion Ihres Nervensystems durch Ihr eigenes Handeln zu beeinflussen.

Lukas: Das ist sehr spannend! In der Studie berichten Sie weiter, dass dies über verschiedene Arten von Antidepressiva [SSRIs, SNRIs, Ketamin] hinweg auftritt. Denken Sie, dass dieser Effekt auch die Ursache für die antidepressive Wirksamkeit anderer Medikamente sein könnte? Also, dass alle Substanzen mit potenzieller antidepressiver Wirkung über denselben Mechanismus wirken würden.

Eero: Im Wesentlichen wurde bei allen Antidepressiva, die untersucht wurden, eine Signalisierung über TRKB-Rezeptoren nachgewiesen. Ich denke, dass BDNF und TRKB nur den Prozess der aktivitätsabhängigen synaptischen Selektion und Stabilisierung vermitteln. Wenn man diesen gleichen Prozess mit anderen Molekülen aktivieren kann, dann denke ich, dass dieses Molekül auch ein Antidepressivum sein könnte. Ich sehe keinen Grund, warum man nicht prinzipiell ein anderes Molekül entwickeln könnte, das die gleiche Art von physiologischen Effekten [Förderung der Neuroplastizität] erfüllt, aber andere molekulare Wege benutzt. Es scheint, dass sich die TRKB- und BDNF-Signalisierung entwickelt hat, um diese spezielle Funktion zu erfüllen, und deshalb scheint die Einwirkung auf die TRKB-Rezeptoren diese Effekte direkt zu erzeugen. Wie ich schon sagte, sieht es bisher so aus, als ob im Wesentlichen alle Medikamente, die Antidepressiva sind, diese Wirkung haben.

Lukas: Lassen Sie uns nun zu den Implikationen Ihrer Ergebnisse kommen. Was denken Sie, bedeuten Ihre Ergebnisse für die Interpretation der antidepressiven Wirkung von SSRIs, die sich klassischerweise auf die Rolle von Serotonin konzentriert hat? Deuten Ihre Ergebnisse darauf hin, dass die Serotonin-Signalisierung für die antidepressive Wirkung eigentlich nicht notwendig ist?

Eero: Serotonin ist ein sehr wichtiger und sehr alter Neurotransmitter, der seit langer Zeit in Tieren und sogar in Pflanzen existiert. Es hat definitiv viele Wirkungen im Gehirn und es ist sehr klar, dass diese Antidepressiva tatsächlich die Serotoninübertragung beeinflussen, das steht außer Frage, aber unsere Daten legen nahe, dass Serotonin für die antidepressive Wirkung möglicherweise nicht benötigt wird. Wir haben gesehen, dass, wenn wir die TRKB-Rezeptoren in Mäusen genetisch manipulieren und diese Tiere dann in Verhaltenstests einsetzen, die antidepressive Wirkung verloren zu gehen scheint. Daher erscheint es uns, dass TRKB ein kritischer Mediator für diese Verhaltenseffekte ist, aber es findet definitiv auch eine serotonerge Wirkung statt. Solche Effekte treten zusammen auf, und ich denke, dass jetzt mehr Arbeit nötig ist, um zu untersuchen, was die spezifischen Effekte von Antidepressiva tatsächlich sind. Es könnte sein, dass verschiedene Medikamente auf leicht unterschiedliche Weise auf TRKB, aber auch auf Monoamine einschließlich Serotonin einwirken, was Hinweise darauf geben könnte, in welchen Situationen man welche Medikamente einsetzen sollte.

Lukas: Neben den Neurotransmittern haben Sie in Ihrer Arbeit auch die Auswirkungen von Cholesterin im Gehirn erwähnt. Könnten Sie den Unterschied zwischen Cholesterin im Gehirn und im Rest des Körpers erläutern?

Eero: Cholesterin wird oft als Bösewicht angesehen, den man loswerden muss, aber tatsächlich ist Cholesterin ein wichtiger Bestandteil der Fettmembranen, die alle Zellen umgeben. Es spielt auch eine wichtige Rolle bei der Koordination vieler Proteine und verschiedener Faktoren.

Interessanterweise gelangt Cholesterin nicht vom Rest des Körpers ins Gehirn, was bedeutet, dass das Gehirn auf seine eigene Cholesterinsynthese angewiesen ist. Dies geschieht hauptsächlich durch die Astrozyten im Gehirn, die das Cholesterin an die Neuronen weiterleiten, die es verwerten. Es wurde bereits gezeigt, dass Cholesterin wichtig für die Konnektivität und die synaptische Funktion im Gehirn ist, und wenn man es zu sehr reduzieren würde, dann hätte man Probleme mit der synaptischen Funktion. Im Grunde hat das hohe Cholesterin im Körper nichts mit dem Cholesterin im Gehirn zu tun und wird nicht über die Blut-Hirn-Schranke übertragen. Auch wenn es sozusagen als Bösewicht gilt, ist es für die ordnungsgemäße Funktion des Gehirns definitiv notwendig.

Wir haben zum Beispiel herausgefunden, dass Cholesterin auch auf TRKB einwirkt, und unsere Ergebnisse implizieren tatsächlich, dass Antidepressiva nur deshalb an TRKB binden können, weil Cholesterin diese Bindung unterstützt und für die antidepressive Wirkung erforderlich ist.

Lukas: Ich habe eine letzte Frage an Sie: Was kommt als nächstes für Sie und Ihr Labor?

Eero: Es gibt eine Reihe von Dingen, die wir tun. Eine davon, die jetzt, wo wir diese Bindungsstelle gefunden haben und ein Modell davon haben, ganz offensichtlich ist, ist die Suche nach Medikamenten, die für diese spezielle Stelle entwickelt werden können, mit potenziell höherer Affinität als herkömmliche Antidepressiva. Ein Ergebnis davon könnten veränderte Versionen von klassischen Antidepressiva sein, die schneller wirken. Die andere Sache, die wir untersuchen, sind natürliche Substanzen im Körper, andere als BDNF, die mit TRKB interagieren, wie z.B. Cholesterin. Auch das ist etwas, das wir gerne genauer untersuchen und besser verstehen möchten.

Lukas: Wunderbar! Nochmals vielen Dank für Ihre Zeit und alles Gute für die Zukunft.

Referenzen

  1. Casarotto, P. C., Girych, M., Fred, S. M., Kovaleva, V., Moliner, R., Enkavi, G., Biojone, C., Cannarozzo, C., Sahu, M. P., Kaurinkoski, K., Brunello, C. A., Steinzeig, A., Winkel, F., Patil, S., Vestring, S., Serchov, T., Diniz, C. R. A. F., Laukkanen, L., Cardon, I., … Castrén, E. (2021). Antidepressant drugs act by directly binding to TRKB neurotrophin receptors.Cell,184(5), 1299-1313.e19.https://doi.org/10.1016/j.cell.2021.01.034

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