Ketamin in der kontextuellen Traumatherapie

Das Paradox der Dissoziation bei (komplexer) PTBS

Übersetzt aus dem Englischen von Luise von Münchhausen, editiert von Marvin Däumichen

Ketamin-induzierte Dissoziation im Rahmen einer Psychotherapie könnte einen therapeutisch wirksamen Effekt bei (komplexer) Ptbs ausüben, indem Sie eine Distanz gegenüber Erfahrungen schafft, die es Traumaüberlebenden ermöglicht, sich traumatischem Material zu stellen und es zu verarbeiten, ohne davon überwältigt zu werden.

Steven Gold, PhD, und Michael Quinones, PhD, beides klinische Psychologen, arbeiten in privater Praxis mit Patient:innen, die an komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (K-PTBS) leiden. In diesem Blogbeitrag teilen sie ihre Sichtweise auf K-PTBS, Dissoziation und Ketamin, ausgehend von ihrer persönlichen Arbeitserfahrung in der ketamingestützten Psychotherapie.

Was Ist Komplexe PTBS?

Genau 40 Jahre nach der offiziellen Anerkennung der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als diagnostizierbare psychische Störung1 ist es bemerkenswert, wie sich einerseits so viel, und andererseits so wenig verändert hat. Die Anerkennung von Trauma und dessen  Auswirkungen scheint allgegenwärtig zu sein. In den populären Medien lassen sich unzählige Berichte über traumatische Ereignisse, ihre belastenden psychologischen Auswirkungen und ein Potpourri an Behandlungsmöglichkeiten für ebendiese finden. Die Forschungsliteratur zum Thema „Trauma” hat sich in den letzten Jahrzehnten exponentiell erweitert. Während es in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts praktisch keine Veröffentlichungen dazu gab, werden heutzutage buchstäblich Tausende von Publikationen pro Jahr zu diesem Thema veröffentlicht. Dennoch werden wir als Therapeut:innen, die sich auf die Behandlung von Traumafolgestörungen spezialisiert haben, regelmäßig von potentiellen Klient:innen kontaktiert, einschließlich derer, die in den größten Metropolregionen der USA leben und es nicht schaffen, eine psychosoziale Fachkraft zu finden, die in der Traumabehandlung wirklich erfahren zu sein scheint. Stattdessen berichten sie von aussichtslosen Therapien und zeitlich schlecht abgestimmten oder undurchdachten Interventionen, die ihre traumabedingten Schwierigkeiten eher verschlimmert als verbessert haben.

Obwohl einige Formen der Traumatherapie ausgiebig erforscht und als hochwirksam eingestuft wurden, finden sich zunehmend Hinweise darauf, dass die Wirksamkeit dieser Ansätze außerhalb des Labors, unter realen Bedingungen, erheblich geringer sein könnte. Forschungsstudien zeigen, dass die Behandlung in Gemeinschaftssettings von durchschnittlich etwa 50 % der Patient:innen vorzeitig abgebrochen wird.2,3 Bei einigen Patient:innen kommt es aufgrund der Behandlung sogar zu einer Verschlechterung der Symptome und einer Verringerung in verschiedenen Funktionsbereichen.3,4

Um die Lage noch komplizierter zu machen, ist außerdem gut belegt, dass traumatische Erfahrungen mit einer Vielzahl weiterer Syndrome neben PTBS (und oft komorbid dazu), verbunden sind. Dissoziative Störungen, Sucht- und Zwangsstörungen, schwere Depressionen, sowie Borderline-Persönlichkeitsstörungen, gehören zu den bekanntesten, aber keineswegs zu den einzigen Diagnosen, die mit einer Geschichte von traumatischen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden können.5,6 Wenn die Entstehung solcher Störungen auf  Traumata zurückzuführen ist, kann das Versäumnis, diesen Ursprung zu erkennen, die Wirksamkeit der Behandlung erheblich beeinträchtigen.

Ein weniger bekanntes, aber weit verbreitetes Syndrom ist die Komplexe PTBS (K-PTBS), ein vielfältiges Beschwerdebild, das erstmals von der Harvard-Psychiaterin Judith Herman in den frühen 1990er Jahren eingeführt wurde.7 Lange Zeit herrschte viel Kontroverse um die K-PTBS8 und erst in jüngster Zeit wurden Forschungsergebnisse vorgelegt, die die Validität des Konstruktes maßgeblich unterstützen.9,10 Dies führte wiederum zur erstmaligen Anerkennung der Störung in der elften Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (International Classifications of Diseases, ICD-11).10,11 Die K-PTBS umfasst alle Merkmale einer PTBS, beinhaltet aber zusätzlich drei weitere Symptome, die als Störungen der Selbstorganisation bezeichnet werden: eine dauerhaft negatives Selbstkonzept, anhaltende Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen und gestörte Affektregulation.12 Die Aufnahme der K-PTBS in das Klassifizierungsschema markiert einen zentralen Wendepunkt in der Traumapsychologie, da einige empirische Studien darauf hindeuten, dass die K-PTBS deutlich häufiger auftritt als die begrenzte Gruppe von Beeinträchtigungen, die die PTBS allein umfasst.12

Ursprünglich wurde angenommen, dass die K-PTBS eine Folge von wiederholten oder anhaltenden traumatischen Erlebnissen sei.7 Während dies zwar der Fall zu sein scheint, deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass die K-PTBS insbesondere mit umfangreichen traumatischen Erfahrungen in der Kindheit in Verbindung gebracht werden kann.6, 12-14 Ein genauerer Blick auf einen solchen Ursprung in frühkindlichen Belastungserfahrungen kann uns eine veränderte Sichtweise auf diese Störung geben. Die drei Komponenten einer gestörten Selbstorganisation können nämlich nicht nur als direkte Folgen des traumatischen Ereignisses verstanden werden, sondern auch als Entwicklungsbeeinträchtigungen, die daraus resultieren, in einem zwischenmenschlichen Umfeld aufgewachsen zu sein, welches die psychische Entwicklung nicht angemessen unterstützt hat.

Die Neurobiologie Der K-PTBS

Um das Potenzial psychedelisch-unterstützter Ansätze zur Förderung psychologischer Transformationen zu erkennen, die die Auflösung einer K-PTBS begünstigen können,  ist es unerlässlich, sich mit der Entwicklungsneurobiologie der Störung vertraut zu machen. Die neurologischen Strukturen des Gehirns entwickeln sich in Netzwerken der Konnektivität (intrinsische Konnektivitätsnetzwerke), von denen jedes mit spezifischen Funktionen verknüpft ist, wie z.B. dem Erledigen von Aufgaben, dem Abrufen autobiographischer Informationen oder vergangener Erfahrungen, der Aufrechterhaltung eines Selbstkonzepts und der Wahrnehmung der äußeren Umwelt.20  Untersuchungen haben gezeigt, dass sichere Bindungserfahrungen, einschließlich des Erhalts von Zuneigung und Aufmerksamkeit, sowie die Empfänglichkeit von Bezugspersonen, für die Entwicklung und das Wachstum des menschlichen Gehirns und adaptive Muster der funktionellen Konnektivität seiner neurologischen Strukturen wesentlich sind.16,17

Untersuchungen der Neurobiologie und Phänomenologie von Traumatisierungen haben gezeigt, dass sowohl traumatische Erfahrungen als auch das Fehlen von Erfahrungen, welche für eine adäquate Entwicklung notwendig sind, wie zum Beispiel eine sichere Bindung, die biologischen Prozesse der Gehirnentwicklung negativ beeinflussen und zu abweichenden Mustern neuronaler Funktion und Konnektivität führen können.18,19 Hierzu gehören Probleme der Proliferation (Wachstum/Vermehrung) und des Prunings von Neuronen und Synapsen, was zu einer abweichenden Gehirnaktivität innerhalb und zwischen spezifischen neurologischen Strukturen führt.21,22 Studien deuten stark darauf hin, dass derartige Belastungserfahrungen die Entwicklung einiger essentieller neurologischer Strukturen wie dem Hippocampus, der Amygdala, dem cingulären und insulären Kortex sowie dem präfrontalen, temporalen und parietalen Kortex beeinträchtigen können.23-25

Bei Erwachsenen, bei denen eine Symptomatik mit Hinweisen auf eine PTBS, Borderline-Persönlichkeits- oder eine dissoziative Störung festgestellt wurde, scheint die funktionelle Konnektivität zwischen diesen neurologischen Strukturen erheblich verändert zu sein, was wiederum zu einer Störung der intrinsischen Konnektivität neuronaler Netzwerke führen kann.26-28 Diese Störungen können mit einer Vielzahl von Symptomen, wie etwa Hyperarousal  Dissoziation, depressiven Verstimmungen, negativen Gedanken und Selbstkonzepten, sowie Flashbacks korrespondieren, welche die PTBS, K-PTBS und eine Reihe weiterer Störungen, die komorbid zu Traumafolgestörungen auftreten, ausmachen.

Ein Überblick Über Die Kontextuelle Traumatherapie

Seit etwa 30 Jahren arbeiten wir an einem sich entwickelnden konzeptionellen Rahmen für das Verständnis der K-PTBS und einem Behandlungsansatz, der auf dieser konzeptionellen Perspektive basiert: Die kontextuelle Traumatherapie.15 Das Modell der kontextuellen Traumatherapie stimmt in mehrfacher Hinsicht vollständig mit den jüngsten Forschungsergebnissen in Bezug auf K-PTBS überein. Wir verweisen darauf, dass die K-PTBS nicht nur auf belastende Ereignisse zurückzuführen ist, die einem Kind widerfahren sind (also auf Trauma), sondern ebenso auf einen Mangel an förderlichen Einflüssen (also auf Entwicklungsdeprivation). Die traumatischen Auswirkungen, die eine missbräuchliche Behandlung auslöst, zeigen sich in den Symptomen einer PTBS. Zusätzlich dazu stellen die drei Symptome der gestörten Selbstorganisation zentrale Folgen einer Entwicklungsbeeinträchtigung dar. Solche Entwicklungsbeeinträchtigungen können darauf zurückgeführt werden, dass das Kind in einem unzureichend stimulierenden zwischenmenschlichen Kontext aufgewachsen ist und somit grundlegende Entwicklungsbedürfnisse nach Zuneigung und Bestätigung nicht erfüllt werden konnten. Daher auch der Begriff kontextuell in der kontextuellen Traumatherapie.

Dieser Kontext der Deprivation begünstigt die Vulnerabilität, Missbrauch zum Opfer zu fallen, steigert das Risiko für Traumatisierung als Reaktion auf zwischenmenschliche Gewalt, erhöht die Wahrscheinlichkeit für anhaltende Viktimisierung (bekannt als Reviktimisierung) im späteren Leben und fördert Formen der Dysfunktion, die eine gestörte Organisation des Selbst umfassen.

Infolgedessen geht die Theorie der kontextuellen Traumatherapie davon aus, dass die Auflösung einer K-PTBS in erster Linie eine Behebung von Entwicklungsdefiziten erfordert, um die funktionale Resilienz zu stärken. Eine Steigerung der Resilienz und Stabilität kann als als einleitende Stufe, vor der potentiell belastenden Auseinandersetzung mit der Traumatisierung und deren Auflösung, gesehen werden. Aufgrund vieler möglicher Beeinträchtigungen in der Entwicklung, können Opfer einer K-PTBS in ihren Anpassungs- und Bewältigungsfähigkeiten eingeschränkt sein. Bei einer direkten Konfrontation mit intensiven traumatischen Inhalten sind sie daher anfällig für eine Verschlechterung anstelle einer Auflösung ihrer Symptomatik. Um dies zu umgehen, kann man zunächst die drei Symptome der Störungen der Selbstorganisation bei der K-PTBS angehen, indem man: 1) eine konsistente, vertrauensvolle therapeutische Beziehung entwickelt, die als „Labor“ für den Erwerb zwischenmenschlicher Fähigkeiten dienen kann; 2) eine kognitive Verarbeitung irrationaler Überzeugungen, welche ein negatives Selbstbild aufrechterhalten, ermöglicht; und 3) nötige Verhaltensweisen trainiert, um eine ausreichende Regulierung von Impulsen und den Ausdruck von Gefühlen zu fördern.

Zusammenfassend ist die kontextuelle Traumatherapie eine vielseitige Behandlung, die auf eine große Bandbreite von Ansätzen zurückgreift, welche von der zentralen Prämisse abgeleitet werden, dass eine gestörte Selbstorganisation nicht primär auf schädliche Ereignisse eines Kindheitstraumas zurückzuführen sind, sondern vielmehr darauf, dass  Patient:innenin einer zwischenmenschlichen Umgebung aufgewachsen sind, in der adaptive Fähigkeiten der Selbstorganisation nicht angemessen vorgeführt und vermittelt wurden. Vor diesem Hintergrund kann nicht erwartet werden, dass eine alleinige Aufarbeitung des Traumas diese Art von Schwierigkeiten verbessert. Ganz im Gegenteil: da diese häufig belastend und möglicherweise destabilisierend ist, kann ein direkter, intensiver Fokus auf das Trauma zu Beginn einer Behandlung Schwierigkeiten in der Selbstorganisation radikal verschlimmern.

Das Potenzial von Ketamin als Ergänzung zur Therapie, um die Auflösung einer K-Ptbs zu fördern zur Auflösung von K-PTBS

Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von erheblichen Fortschritten in der Anwendungsforschung von Psychedelika (wie Psilocybin, Ayahuasca, LSD, MDMA und Ketamin) zur Behandlung eines breiten Spektrums mentaler Probleme und psychischer Störungen. Unter den klassischen und nicht-klassischen Psychedelika ist Ketamin für uns aus mehreren Gründen von besonderem Interesse. Allem voran wurde festgestellt, dass es besonders für Patient:innen mit verschiedenen psychischen Störungen, einschließlich PTBS, Dissoziation, Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen von Nutzen sein kann.29-31

Im Gegensatz zu klassischen Psychedelika wird Ketamin als „dissoziatives Psychedelikum“ oder „dissoziative Droge“ bezeichnet. Tatsächlich wurden die dissoziativen Wirkungen von Ketamin bereits um die Zeit seiner Entdeckung und seit seiner anfänglichen Verwendung als Anästhetikum hervorgehoben.32 Neuere Studien beschreiben, wie die Verabreichung von Ketamin dosisabhängige dissoziative Erfahrungen wie Depersonalisation, Derealisation, Zeitverzerrung und Amnesie hervorrufen kann.33,34 Interessanterweise wurde auch festgestellt, dass eine akute Depersonalisation und Derealisation nach einer Verabreichung von Ketamin die antidepressive Wirkung der Substanz vorhersagen kann.35,36

Jüngste Forschungsergebnisse zu neurobiologischen Effekten von Ketamin geben Aufschluss darüber, inwiefern die therapeutische Wirkung der Substanz zustande kommen könnte. Ketamin fördert die Neuroplastizität, sowohl durch „Synaptogenese“ (Entstehung neuer Synapsen zwischen Nervenzellen), als auch durch „Neurogenese“ (Bildung neuer Nervenzellen).30 Darüber hinaus wirkt Ketamin direkt auf Rezeptoren des Neurotransmitters Glutamat, welches die funktionelle Konnektivität zwischen verschiedenen neurologischen Strukturen (präfrontaler Kortex, Hippocampus, anteriorer cingulärer Kortex und Basalganglien) zu verändern scheint. Somit wird, sowohl durch „Entkopplung“ als auch „Kopplung“ bestimmter Netzwerkknoten, die funktionelle Konnektivität weitreichender Netzwerke im Gehirn verändert.37,38 In einem therapeutischen Umfeld kann dies dazu beitragen, dass die veränderte Konnektivität innerhalb und zwischen neuronalen Strukturen verbessert wird, welche, aufgrund der Auswirkungen von Trauma und eingeschränkter Entwicklung, andernfalls beeinträchtigt sein können.

Dementsprechend korrelieren diese neurobiologischen Veränderungen mit der veränderten Bewusstseinswahrnehmung der Person nach der Einnahme von Ketamin, wie zum Beispiel verminderte Anhedonie (die Unfähigkeit, Freude zu empfinden), Zeitverzerrung und Depersonalisation.37,39 Als Teil der beeinträchtigenden Symptomatik einer K-PTBS und anderen Traumafolgestörungen ist die Dissoziation typischerweise mit Erfahrungen von sowohl Trauma als auch Deprivation verbunden. Im Gegensatz dazu scheint eine durch Ketamin hervorgerufene Dissoziation und die damit verbundenen neurobiologischen und phänomenologischen Veränderungen des Bewusstseins einen therapeutisch wirksamen Effekt auszuüben. Wie wir glauben, ist dies auf zwei Eigenschaften von Ketamin zurückzuführen, die für diese Patient:innengruppe einen therapeutischen Nutzen haben: 1) Die durch die dissoziative Wirkung von Ketamin erzeugte Erfahrungsdistanz ermöglicht es den Traumaüberlebenden, sich traumatischen Erlebnissen zu stellen und sie zu verarbeiten, ohne davon überwältigt zu werden und 2) Die neuroplastizitätsfördernden Eigenschaften von Ketamin bieten die Grundlage für eine Korrektur von Entwicklungsdefiziten.

Während man bei Dissoziation normalerweise an Erscheinungsformen wie Depersonalisation und Amnesie denkt, finden wir es konzeptionell nützlich, sich vor Augen zu halten, dass das Wort Dissoziation im Wesentlichen Trennung bedeutet. Dissoziation kann sich als Trennung vom eigenen subjektiven Erleben manifestieren (so wie bei der Depersonalisation, bei der Gedanken, Gefühle, Empfindungen usw. nicht zur eigenen Person zu gehören scheinen), von der Umgebung (wie bei  der Derealisation, bei der die Person ihre Umgebung als weit entfernt und unwirklich empfindet) oder von anderen Menschen (das relative Fehlen der Fähigkeit, eine erfahrbare Bindung zu anderen zu fühlen, ein häufiges Merkmal verschiedener Formen unsicherer Bindung).

Für traumatisierte Personen scheinen dissoziative Fähigkeiten wie ein zweischneidiges Schwert zu wirken. Bei der Bewältigung chronischer psychischer, emotionaler und körperlicher Belastung, die mit andauernden Widrigkeiten in der Kindheit und Traumatisierung verbunden ist, haben sie eine schützende Funktion. Andererseits kann die Automatisierung der Dissoziation als Schutzmechanismus auch zu chronischen Schwierigkeiten im Leben führen. Befriedigende Beziehungen, Beibehaltung von Beschäftigungen und allgemeiner Erfolg im täglichen Leben erfordern die Fähigkeit, unterschiedliche Stresslevel zu tolerieren und während Erfahrungen präsent zu bleiben. Eine solche Erfahrungspräsenz ist außerdem erforderlich, um Zugang zu positiven Gefühlszuständen zu erlangen, die mit gegenseitiger Verbundenheit, erfüllenden Beziehungen, Freude, Spontaneität und Kreativität einhergehen. Da gerade diese Erfahrungspräsenzdurch Dissoziation beeinträchtigt wird, fällt es Patient:innen mit chronisch dissoziativen Neigungen schwer, sich zu entfalten und ein glückliches, erfülltes Leben zu führen.

Ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung von K-PTBS besteht darin, Betroffenen zu helfen, dissoziative Reaktionen auf episodische Belastungen zu reduzieren, indem sie dabei unterstützt werden, die Fähigkeit einer erfahrbaren Verbindung mit sich selbst, anderen und der Umgebung zu entwickeln. Kinder erwerben diese Fähigkeiten durch die spürbare Verbindung zu fürsorglichen und zugänglichen Eltern, was die Entwicklung  adaptiver neuronaler Verbindungen im Gehirn stimuliert.40 Die Entwicklung einer therapeutischen und kollaborativen Beziehung, ein Eckpfeiler der kontextuellen Traumatherapie, sowieder Traumatherapie im Allgemeinen, ist für die Förderung dieser neuronalen und entsprechend erfahrbaren Verbindungen essentiell. Unsere klinische Erfahrung deutet stark darauf hin, dass ketamingestützte Therapie diesen Prozess erheblich beschleunigen kann.

Therapeutische Implikationen

Wir hatten das Glück, Kontakt zu Ketaminzentren aufzubauen zu können, in denen unsere Teilnahme an der ketamingestützten Therapie für einige unserer bestehenden Patient:innen, die an einer K-PTBS leiden, mit Enthusiasmus begrüßt wurde.  Im Hinblick auf unsere Erkundung relevanter biopsychologischer Forschungsliteratur bietet sich uns aktuell der Eindruck, dass das therapeutische Potenzial von Ketamin für Menschen mit K-PTBS ein Paradox darstellen könnte – eine Art, Feuer mit Feuer zu bekämpfenr. Obwohl Dissoziationsepisoden für Menschen mit K-PTBS eine große Schwierigkeit darstellen, scheinen die dissoziativen Eigenschaften von Ketamin sowohl auf phänomenologischer als auch auf biopsychologischer Ebene wesentlich dazu beizutragen, Entwicklungsdefizite und -verzerrungen zu revidieren.

Phänomenologisch gesehen kann der beruhigende Einfluss der Ketamin-induzierten Dissoziation genügend Abstand zur Erfahrung schaffen, um habituelle Schwierigkeiten wie Misstrauen, Gefühle der Unsicherheit und beeinträchtigte Stresstoleranz- und Emotionsregulationsfähigkeiten zu mildern. Der beruhigende Einfluss von Ketamin könnte sogar die Konfrontation mit traumatischen Inhalten spürbar erleichtern, sowie eine Desensibilisierung gegenüber diesen ermöglichen.

Aus biopsychologischer Sicht kann die Entkopplung gestörter neurologischer Verbindungen und die Förderung neuer, produktiverer Verbindungen in sehr viel kürzerer Zeit zu dauerhaften Behandlungserfolgen führen, als eine alleinige traumabezogene Psychotherapie. Zwar sind unsere Erfahrungen mit der ketamingestützten Therapie bei der K-PTBS bisher begrenzt, sie stimmen jedoch mit diesen Annahmen überein. Bereits nach relativ wenigen ketamingestützten Sitzungen konnten wir bemerkenswerte Sprünge in der psychologischen Entwicklung sowie der Traumabewältigung feststellen. Nun hängt es von weiteren klinischen Beobachtungen und empirischen Erkenntnissen ab, ob sich unsere anfänglichen klinischen Eindrücke bewahrheiten.

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