Entropie – mehr als Chaos im Gehirn

Expandierendes Feld, expandierender Geist

Übersetzt von Martin Gürster, editiert von Lucca Nietlispach

Die Entropic Brain Hypothesis ist ein von Robin Carhart-Harris et al. 2014 aufgestelltes Modell des Bewusstseins, welches auf neuer Forschung durch Scans des Gehirns unter Einfluss von Psilocybin basiert. Psilocybin ist der wichtigste psychoaktive Inhaltsstoff in nicht-muskarinischen halluzinogenen Pilzen. Diese Chemikalie ist dafür bekannt, Veränderungen in der Beschaffenheit des Bewusstseins hervor zu rufen. Laut Carhart-Harris ist dies auf eine grundlegende, vorübergehende Veränderung in der Funktion des Gehirns selbst zurückzuführen: das Gehirn wechselt dabei von dem von ihm als sekundäres (der bewusste Akteur, der überlegt, plant und Dinge strukturiert) Bewusstsein bezeichneten Zustand zu einem „primären“ (das uralte, chaotische, mit Traumzuständen vergleichbare) Bewusstsein.1 Laut Carhart-Harris verändern sich unsere Bewusstseinszustände je nach der Gesamtstruktur des Gehirns, genauso wie Materie weniger oder mehr geordnet wird, wenn sich ihr Zustand ändert. Dabei sind beide Enden des entropischen Spektrums langfristig instabil – wie ein platzender oder sich entleerender Luftballon.

Was Ist Entropie?

Entropie ist ein Wort, das im Allgemeinen mit der Physik in Verbindung gebracht wird, insbesondere mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Dieser besagt, dass in einem geschlossenen System (in dem keine Materie oder Energie austritt) Strukture allmählich ungeordneter werden, bis ein Gleichgewicht erreicht ist. Für unsere Zwecke können wir sagen, dass Entropie im Wesentlichen ein Maß für Struktur ist: Wenn die große Pyramide von Gizeh einen Zustand niedriger Entropie darstellt, dann wäre ein Steinhaufen ein Beispiel für hohe Entropie. Das geordnete Stapeln dieser Steine zu einer Pyramide würde die Entropie der Steine verringern, die Entropie des größeren Systems Erde würde jedoch zunehmen, da Energie im Prozess des Stapelns als Wärme verbraucht wird. Das ist der Grund, warum Entropie oft eine negative Konnotation hat: Nach den Gesetzen der Physik wird sich alles irgendwann auflösen, und das Chaos wird “gewinnen”. Das ist ärgerlich – aber es ist nicht die ganze Geschichte.

Das Entropic Brain Model

Die Entropic Brain Hypothesis ist ein Modell der Gehirnfunktion, das einen Zusammenhang zwischen der Gesamtentropie im Gehirn und langfristigen psychologischen Zuständen, insbesondere pathologischen Zuständen wie Schizophrenie und Zwangsstörungen, postuliert. Das menschliche Gehirn tendiert dazu, knapp unterhalb eines Zustandes der Kritikalität zu arbeiten. Kritikalität ist ein Zustand komplexen Verhaltens in einem System zwischen absoluter Ordnung und reinen Zufallszuständen.1 Mit anderen Worten: Unsere Gehirne sind gerade geordnet genug, um die Dinge zu tun, die wir regelmäßig brauchen (im Alltag zeigt sich dies meist als unsere Gewohnheiten), und gleichzeitig flexibel genug, um die Realität zu testen. Das heißt, der Verstand (oder auch Geist) behält seine Reaktionsfähigkeit auf neue, ungewohnte Situationen durch Rückmeldungen von der Außenwelt bei.

Kleine Schwankungen in der Gehirnentropie sind natürlich, aber nach dem Modell von Carhart-Harris können viele Bewusstseinszustände entweder als „niedrige Entropie“ oder „hohe Entropie“ klassifiziert werden. Ergebnisse aus dem fMRI-Neuroimaging legen nahe, dass Psilocybin die Verbindungen in den höheren Assoziationskortizes erhöht und dadurch die Gehirnaktivität desorganisiert. Viele Zustände, die den medialen temporalen Kortex in ähnlicher Weise beeinflussen vom REM-Schlaf bis zur akuten Psychose erreichen ihre subjektiven Eigenschaften wahrscheinlich auf die gleiche Weise. Ebenso könnte man argumentieren, dass Zustände, die eine geringere kortikale Verbindung aufweisen, mit starreren Gedanken und Verhaltensmustern verbunden sind, was wir beispielsweise bei Zuständen wie klinischer Depression, Sucht und Zwangsstörungen erkennen können.

Die Konsequenzen

Diese Zustände sind durch sich wiederholende, konditionierte Verhaltensweisen gekennzeichnet, die sich für Betroffene unveränderbar anfühlen. Ob dieses Verhalten nun regelmäßiges Grübeln über die Hoffnungslosigkeit der Existenz, Substanzmissbrauch oder zwanghaftes Händewaschen ist, es ist konditioniert, unflexibel und starr. Daher ist es nicht verwunderlich, dass eine vorübergehende und extreme Erhöhung der Hirnentropie für Menschen, die unter diesen Zuständen leiden, hilfreich sein könnte, um neue Assoziationen zu bilden.

Dies deckt sich mit neusten Forschungsergebnissen, die darauf hindeuten, dass Psychedelika bei der Behandlung solcher Zustände wirksam sind.1,2 Sie können außerdem einen tiefgreifenden Einfluss auf den Persönlichkeitsfaktor „Offenheit“ haben, obwohl bedeutende Persönlichkeitsveränderungen bei Erwachsenen normalerweise selten sind.1 Ebenso wurde festgestellt, dass Koffein die Entropie im Gehirn in einem geringeren Ausmaß erhöht,1 was auf Gründe hinweisen kann, warum manche Menschen Kaffee zur Bildung neuer Gewohnheiten oder zum Brainstorming konsumieren. Im Gegensatz dazu werden Drogen, die die Hirnentropie eher senken, wie beispielsweise Alkohol und Nikotin,1 viel häufiger von Menschen missbraucht, die an Schizophrenie1 leiden, einer Störung, die viele Merkmale mit hochentropischen Zuständen und primärem Bewusstsein teilt.

Können wir die Hirnentropie als Marker verwenden, um die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung bestimmter Syndrome oder Verhaltensmuster zu bestimmen und dadurch die Kritikalität des Probanden entsprechend anpassen zu können? Was ist mit nicht-pharmakologischen Methoden, um in veränderte Zustände zu gelangen, wie Meditation oder Kundalini Yoga, die beide anekdotisch psychedelische Zustände auslösen? Wie könnte man sich diese Techniken für therapeutische Zwecke zunutze machen? Die Wissenschaft ist noch nicht so weit!

Entropie Im Gehirn

Aber wie geschieht das alles? Neurowissenschaftler haben zwei Hauptnetzwerke im Gehirn isoliert: das Task Positive Network (TPN), welches, wie der Name schon sagt, mit Aktivität und Aktion assoziiert ist, und das Default Mode Network (DMN) (Ruhezustandsnetzwerk), das mit Ruhezuständen und der Aufrechterhaltung eines kohärenten Egos oder “Selbstgefühls” in Verbindung gebracht wird, während man nicht mit aktiven Aufgaben beschäftigt ist. Diese Netzwerke bestehen aus vielen verschiedenen Bereichen des Gehirns, sind aber umgekehrt proportional gekoppelt: je mehr das eine aktiv ist, desto geringer ist die Aktivität im anderen.

Der mediale temporale Kortex, der zur Funktion des DMN beiträgt, scheint entscheidend für die Aufrechterhaltung des Selbstgefühls und der Kontinuität zu sein, welche diese Netzwerke normalerweise vermitteln. Wenn seine Funktion gestört ist, was unter dem Einfluss der meisten klassischen Psychedelika scheinbar geschieht, entkoppeln sich die Netzwerke, wodurch Störungen in den subjektiven Interpretationen von äußeren und inneren Phänomenen verursacht werden. Dies scheint der Mechanismus hinter dem zu sein, was gemeinhin als “Ego-Tod” oder “Ich-Auflösung” bekannt ist, das Gefühl des “Einsseins mit dem Universum” oder des “Verlusts des Selbst”, von dem viele Menschen berichten, es unter dem Einfluss von Psychedelika und einigen anderen psychoaktiven Drogen zu erleben.1,2

Abbildung 1, “Spectrum of Cognitive States”. Carhart-Harris, 2014.

Fazit

“Entropie ist der preis für struktur” – Ilya Prigogine

Wenn das Ausmaß an Flexibilität und Konnektivität im Gehirn tatsächlich mit der Fähigkeit zusammenhängt, neue Gewohnheiten zu bilden oder zu brechen, dann haben wir eindeutig einen Rahmen dafür, warum psychoaktive Substanzen dazu neigen, die menschliche Psychologie auf vorhersehbare Weise zu beeinflussen. Entropie ist mehr als nur “Unordnung” oder “Chaos”. Das sind zwar nützliche Metaphern, die einige Aspekte der Entropie erfassen (wie den Zusammenbruch von Strukturen und Starrheit), aber sie haben negative, normative Konnotationen, die das wegnehmen, was Entropie in der Mathematik und Physik im Allgemeinen bedeutet: eine Zunahme an Möglichkeiten. Materie, die sich von einem Festkörper zu einem Gas verändert, stellt eine Zunahme der Entropie dar, weil sich die Teilchen bei ihrer Ausdehnung in mehreren möglichen Positionen befinden können.

Verspüren Menschen das Bedürfnis, sich mit Substanzen wie Alkohol und Zigaretten (im Fall von Schizophrenie) oder mit Halluzinogenen (im Fall von Depression und Sucht) selbst zu behandeln, um unbewusst Veränderungen innerhalb der eigenen Gehirnentropie zu ermöglichen? Können wir die entropie-induzierenden Eigenschaften psychedelischer Drogen nachahmen und uns ihre Vorteile mit nicht-pharmakologischen, nicht-invasiven Methoden zu Nutze machen? Könnten wir das Prinzip sogar umdrehen und die Entropie reduzieren um Schizophrenie zu behandeln? Zumindest gewinnen wir durch dieses Modell ein Verständnis dafür, wie die Anpassung maladaptiver Zustände in die entgegengesetzte Richtung therapeutisch sein könnte und wie sich das Gehirn verändern kann und das auch tut.

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Referenzen

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2. Beggs, J., Timme, N. (2012) Being Critical of Criticality in the Brain. Frontiers in Psychology 3(163).

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4. Thomas, K. Malcolm, B.,Lastra, D. (2017) Psilocybin-Assisted Therapy: A Review of a Novel Treatment for Psychiatric Disorders. Journal of Psychoactive Drugs.

5. MacLean, K. A., Johnson, M. W., and Griffiths, R. R. (2011). Mystical experiences occasioned by the hallucinogen psilocybin lead to increases in the personality domain of openness. Journal of Psychopharmacology. 25, 1453–1461.

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8. Özçetin, A., Turan, F., Sayar, G. (2014). Nicotine And Alcohol Dependence In Schizophrenia. Mini Review 1, 47-49.

9. Lebedev, A., Kaelen, M., Lovden , M., Nilsson, J., Feilding, A., Nutt, D., Carhart-Harris, R. (2016) LSD-Induced Entropic Brain Activity Predicts Subsequent Personality Change. Mapping the Human Brain 37(9): 3203-3213.

10. Taggliazuchi, L., Mendel, K., Nutt, D. (2016) Increased Global Functional Connectivity Correlates with LSD-Induced Ego Dissolution. Current Biology 26, 1-8.

Image Source:

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