Big Data in der Psychiatrie – Schöne Neue Welt?

Übersetzt von Martin Gürster, editiert von Marvin Däumichen

Täglich lassen sich in der Presse, aber auch in der medizinischen Fachliteratur, Versprechungen von “Big Data”, “Precision Medicine” und “Machine Learning” für die Medizin finden. Diese Ankündigungen beginnen meist mit Sätzen wie: “Psychische Gesundheitsprobleme (einschließlich Substanzmissbrauch) stellen den fünftgrößten Mitverursacher der globalen Krankheitslast mit volkswirtschaftlichen Kosten von 2,5 Billionen Dollar im Jahr 2010 und einer erwarteten Verdopplung bis 2030 dar.”1

Und dann verweisen diese Artikel auf die schier unendlichen Möglichkeiten der Digitalisierung in der Medizin. “Big Data” wird als die Lösung aller Probleme in der Psychiatrie angepriesen: Es würde angeblich nicht nur die Früherkennung von psychischen Störungen verbessern, sondern auch die Therapie. Diese Versprechen klingen himmlisch: “Das aufstrebende Feld der ‘predictive analytics in mental health’ (deutsch: prädiktive Analytik in der psychischen Gesundheit) hat in letzter Zeit enormes Interesse geweckt mit dem kühnen Versprechen, die klinische Praxis in der Psychiatrie zu revolutionieren.”2 Ist das wirklichglaubhaft? Und noch wichtiger: Wollen wir das überhaupt?

In meinem letzten Blogbeitrag “Kennt Ihr Handy Sie besser als Ihr Therapeut?” habe ich beschrieben, was “digital phenotyping” (deutsch: digitale Phänotypisierung) bedeutet und welche großen Erwartungen damit verbunden sind. Ich habe auch meine Skepsis zum Ausdruck gebracht. “Big Data” in der Psychiatrie geht darüber hinaus. Es wird behauptet, aus den Bildern, die wir auf Facebook oder Instagram posten, auf unseren Gemütszustand schließen zu können. Es wurden bereits erste Studien veröffentlicht, in denen ein Algorithmus auf Basis von Instagram-Fotos oder Twitter-Posts “Depression” oder “Posttraumatische Belastungsstörung” diagnostiziert hat, teilweise lange bevor eine klinische Diagnose gestellt wurde. Schon sehr bald sollen Maschinen in der Lage sein, Sprache zu analysieren, um daraus Diagnosen wie Depression oder beginnende Demenz abzuleiten. Es wird auch behauptet, dass die Art der Musik, die wir hören, Rückschlüsse auf unseren emotionalen Zustand zulassen könnte. Manche hoffen allen Ernstes, dass durch die Analyse der über uns gesammelten Unmengen an Daten – und das sind nicht nur unsere digitalen Datenspuren, sondern auch biologische Daten wie Gene, epigenetische Muster, Hormone, Werte und alles, was man “messen” kann – psychische Krankheiten so früh “entdeckt” werden können, dass sie gar nicht mehr auftreten.

Wenn Sie eine Vorstellung davon haben wollen, was diese Vision bedeuten könnte, schauen Sie sich Steven Spielbergs großartigen Film “Minority Report” an, in dem Verbrechen verhindert werden, bevor sie überhaupt begangen werden. Die Zukunftsvision der “Big-Data-Psychiatrie” geht allerdings weit darüber hinaus und wirft viele Fragen auf. Wer wird in Zukunft eine medizinische Diagnose stellen? Ein Arzt? Oder die Maschinen von Google und Apple? Und wenn die Datensammler Hinweise darauf gefunden haben, dass ich an einer Depression leide, wer wird dann informiert? Ein öffentliches Gesundheitssystem? Eine übergeordnete “Behörde für psychische Gesundheit”? Werde ich von dieser Behörde kontaktiert und zur Behandlung aufgefordert? Und wenn ich das nicht will, werde ich dann “überwacht”, um meinen möglichen Selbstmord zu verhindern? Was passiert mit jemandem, dessen Daten darauf hindeuten, dass bei ihm in den nächsten sechs Monaten mit 90-prozentiger Sicherheit eine Psychose diagnostiziert werden wird? Und wenn wir glauben – wie es einige tatsächlich tun, die den Menschen als deterministische biologische Maschine sehen -, dass dies mit 100-prozentiger Sicherheit geschieht, was dann? Behandeln wir sie prophylaktisch? Haben wir überhaupt ein Recht sie zu warnen?

Wer wird definieren, was “normal” ist? Wann ist eine “Depression” behandlungsbedürftig, wenn eine Maschine die “Diagnose” stellt? In einem umsichtigen Artikel stellten Manrai, Patel (beide Harvard University) und Ioannidis (Stanford University) kürzlich die Frage: “In the Era of Precision Medicine and Big Data, Who Is Normal?”3 Auch das Konzept der Research Domain Criteria (RDoC), ein dimensionaler Rahmen für die integrative Erforschung psychischer (Dys-)Funktionen über verschiedene Informations- und Organisationsebenen hinweg, legt nahe, dass man in Zukunft – auch wenn das vielleicht etwas übertrieben ist – nicht mehr den leidenden Menschen, sondern die gestörte Hirnfunktion behandelt. Wird es, wie im Laborbereich üblich, Cut-off-Werte geben, außerhalb derer man zur Behandlung raten sollte?

Letztendlich haben Emotionen wie Depression, Angst oder Verzweiflung ihre evolutionäre Bedeutung. Gerade westliche Industriegesellschaften neigen dazu, diese als unerwünscht zu betrachten und wollen sie um jeden Preis abschalten. Ich bin überzeugt, dass dies ein Grund dafür ist, dass der Gebrauch (oder vielleicht besser – Konsum?) von Antidepressiva in den letzten zwanzig Jahren dramatisch zugenommen hat und jedes Jahr weiter steigt. Sind wir gesünder geworden? Die Antwort finden Sie im ersten Absatz dieses Beitrags. Die Big-Data-Psychiatrie ist die Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen. Doch sie verursacht bei vielen Menschen mindestens so viel Unbehagen wie diese Entwicklungen selbst.

Referenzen

  1. Conway M, O’Connor D. Social Media, Big Data, and Mental Health: Current Advances and Ethical Implications.CurrOpinPsychol.2016;9:77-82.doi:10.1016/j.copsyc.2016.01.004 

  2. Hahn T, Nierenberg AA, Whitfield-GabrieliS.Predictive analytics in mental health: applications, guidelines, challenges and perspectives. Molecular psychiatry. 2017;22(1);37–43.https://doi.org/10.1038/mp.2016.201 

  3. ManraiAK, Patel CJ, Ioannidis JPA. In the Era of Precision Medicine and Big Data, Who Is Normal? JAMA. 2018;319(19):1981-2.doi:10.1001/jama.2018.2009 


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