Kennt Ihr Smartphone Sie besser als Ihr Therapeut?

Die Möglichkeiten und Risiken des Digital Phenotyping

Übersetzt von Jonas Demku, editiert von Luise von Münchhausen

Im Jahr 2017 veröffentlichte Tom Insel, der ehemalige Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH), im renommierten Journal of the American Medical Association (JAMA) einen kurzen “viewpoint”-Artikel mit dem Titel “Digital Phenotyping – Technology for a New Science of Behavior” (Digitale Phänotypisierung – Technologie für eine neue Wissenschaft des Verhaltens).1 Bereits Anfang 2017 verließ Insel seinen ehemaligen Arbeitgeber Alphabet (ehemals Google) für das Unternehmen Mindstrong Health, welches in Kalifornien ansässig ist. Laut seiner Website widmet sich das Unternehmender „Transformation der Gehirngesundheit: Bessere Ergebnisse durch eine messdatenbasierte Behandlung.“

Was genau ist „Digital Phenotyping?“ Dies wird ebenfalls auf der Website von Mindstrong beschrieben:

„Digital Phenotyping ist der Kern unseres messdatenbasierten Ansatzes. Digital Phenotyping ist schlicht eine Messung, welche auf Smartphone-Nutzung basiert. Da Smartphones mittlerweile allgegenwärtig sind, bietet ihre zunehmende Nutzung eine noch nie dagewesene Möglichkeit, Stimmung, Kognition und Verhalten zu messen – passiv, objektiv und kontinuierlich.“

Laut Insel „verspricht die Smartphone-Technologie zwar, viele Aspekte des Gesundheitswesens zu verändern, doch wird sich wahrscheinlich kein Bereich der Medizin stärker durch diese Technologie verändern als die Psychiatrie. Digital Phenotyping ist der Begriff, der diesen neuen Ansatz beschreibt, welcher das Verhalten anhand von Smartphone-Sensoren, Tastaturnteraktion und verschiedenen Merkmalen von Sprache und Stimme erfasst.“

Sachin Jain und Kollegen geben in ihrem einflussreichen 2015 veröffentlichten Artikel „The digitale phenotype“ ein typisches Anwendungsbeispiel: „Bei einem bipolaren Patienten, dessen Manie sich in schneller, ununterbrochener Sprache oder Hypergraphie manifestiert, könnte seine Krankheit durch die Häufigkeit, die Nutzungsdauer und den Inhalt seiner Socialmedia-Aktivität charakterisiert werden. Durch diese verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten kann Digital Phenotyping dabei helfen, dass frühe Krankheitsmanifestationen nicht unerkannt bleiben und es könnte dem Gesundheitssystem erlauben, flexiblere, zielgerichtetere und schnellere Interventionen zu entwickeln.“2

Insel führt weiterhin aus: „Über die letzten vier Jahrzehnte hat die Verhaltensexpertise, einst die Stärke der Psychiatrie – an Wichtigkeit verloren, da sich die psychiatrische Forschung auf Pharmakologie, Genomik und Neurowissenschaft fokussierte. Ein Großteil der psychiatrischen Praxis wurde zu einer Reihe kurzer, klinischer Interaktionen mit dem Schwerpunkt auf das Medikamentenmanagement. In der Forschungspraxis wurde die Erstellung einer Diagnose aus dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) zu einem Ersatz für die Verhaltensbeobachtung. In der Praxis messen nur wenige Kliniker Emotion, Kognition oder Verhalten mit standardisierten und validierten Werkzeugen.“

Glauben wir das alles wirklich? Können die Komplexität des menschlichen Verhaltens und sogar psychiatrische Störungen von den Spuren abgeleitet werden, die wir auf unseren Smartphones hinterlassen? Wenn wir noch kein einheitliches Konzept von „Psychosen“ haben, wie können wir dann glauben, dass „semantische Kohärenz von Sprechproben ein Prädiktor für Psychosen [ist]?“1 Wenn wir keine Möglichkeit haben, die enorme Heterogenität von Affektstörungen zu erklären, wie können wir dann glauben, dass „Variationen in mehreren Sensormessungen ein Korrelat von Stimmungsbewertungen sind“?1

Zurückblickend auf seine Zeit am NIMH gibt Insel zu, dass er nicht glaubt, dass sie in seinen 13 Jahren als Direktor des NIMH „ etwas bewegt haben, um die Zahl der Suizide oder die Zahl der Krankenhausaufenthalte zu reduzieren und die Genesung der zig Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern. Ich halte mich selbst verantwortlich dafür.“3 Heue präsentiert er in Form des Digital Phenotyping ein noch reduktionistischeres Konzept psychiatrischer Störungen als jenes, welches in den Research Domain Criteria (RDoC) des NIMH zu finden ist. Das RDoC ist ein mehrdimensionales System, um die integrative Erforschung mentaler (Dys-)Funktionen auf verschiedenen Informations- und Organisationsebenen zu ermöglichen.

Insel schlussfolgert: „Nach 40 Jahren, in welchen die Psychiatrie noch geistloser als hirnloser (more mindless than brainless) wurde, wird Digital Phenotyping möglicherweise dazu beitragen, dass sich der Blick auf Verhalten, Kognition und Stimmung wieder erneuert. Es heißt, dass neue Wege in der Wissenschaft viel häufiger durch neue Werkzeuge als durch neue Konzepte eingeschlagen werden. In diesem Fall könnte ein Werkzeug, welches kostengünstig und allgegenwärtig ist, die Richtung des Fachgebietes ändern.“1

Meine persönliche Überzeugung ist, dass „Digital Phenotyping“ ein interessantes Werkzeug sein könnte, um bestimmte Aspekte menschlichen Verhaltens besser zu verstehen, aber es ist weit davon entfernt „die Richtung des Fachgebietes zu ändern“. So eine Richtung wäre nicht nur geistloser (mindless), sondern auch weniger menschlich („human-less“).

Referenzen

  1. Insel TR. Digital Phenotyping: Technology for a New Science of Behavior. JAMA. 2017;318(13):1215-6. doi:10.1001/jama.2017.11295

  2. Jain SH, Powers BW, Hawkins JB, Brownstein JS. The digital phenotype. National Biotechnology 2015;33(5):462-463. doi:10.1038/nbt.3223

  3. Rogers A. Star Neuroscientist Tom Insel Leaves the Google-Spawned Verily for … a Startup? WIRED [Internet]. 2017 Nov 5; Available from:https://www.wired.com/2017/05/star-neuroscientist-tom-insel-leaves-google-spawned-verily-startup/


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